Die Linkshänderin
Ein Text von Hannah Zufall
Seitdem sie das Gefühl beschlichen hatte, dass etwas nicht stimmte, pochte es in ihr. Es war wie ein zweiter Puls, der ihr einen anderen Takt vorgab und sie vor sich hertrieb. Sie versuchte zunächst, es logisch zu fassen. Dass Entfremdungen eben stattfinden. Dass man sich ändert. Dass der Körper alle sieben Jahre ein komplett neuer ist, so wie sich eine Schlange häutet und ihre alte Hülle verlässt. Womöglich hatte das ihre Wahrnehmung verschoben, aber warum hatte sich diese Beziehung nicht auch weiterentwickelt? Wann hatten sie den Kontakt zueinander verloren?
Sie schaute auf ihre linke Hand, wie sie sich an dem Tisch im Lokal festklammerte, und löste sich vorsichtig. Wie war sie überhaupt in dem Café gelandet? Eine Ameise steuerte den Zuckerspender vor ihr an, hielt dann aber inne und bewegte sich zielstrebig in ihre Richtung. Sie nahm die Tasse schnell hoch, die rechte Hand war leicht am Zittern. Die linke lag aber nur wie ein Fremdkörper da, bleich, ein lebloser Klumpen Fleisch. Die Ameise stellte sich vor der Hand auf die Hinterbeine und richtete abrupt ihre Zangen auf, als würde sie wittern, dass etwas anders an ihr war.
Sie waren lange unzertrennlich gewesen, es war ihr wie das Natürlichste der Welt vorgekommen, ihre Zeit miteinander zu verbringen. Es war wie Atmen gewesen, die Berührungen waren von einer gemeinsamen Wahrnehmung erfüllt. Ja, fast war es so, als würden sie die Welt nur zusammen begreifen können. Es hat etwas Liebevolles und Tastendes gehabt, auch wenn sie sich oft die Finger dabei verbrannt hatten. Und jetzt bekam sie sie nicht mehr zu fassen, diese frühere Verbindung. Im Gegenteil, es schüttelte sie, wenn sie sich vorstellte, wie sie einander berührten. Als wäre das grundsätzlich falsch und wesensfremd. Wie bekamen andere das bloß hin, über so viele Jahre hinweg? Sie blickte auf.
Eine ältere Frau mit Zeitung saß ihr gegenüber und schaute zurück, einen Augenblick zu lang. Ehe sie es sich überlegen konnte, brach es der Fremden gegenüber aus ihr heraus: »Geht es Ihnen also auch so. Sie schlagen die Zeitung auf, und jede Schlagzeile spiegelt die eigene Ohnmacht. Spielt sich in Ihrem Kopf nicht auch ständig diese Szene aus der Unendlichen Geschichte ab? Wie der Steinbeißer auf seine großen, starken Hände schaut und sagt: ›Ich konnte sie nicht festhalten. Das NICHTS hat sie mir einfach aus den Händen gerissen ... Das sind doch große, starke Hände?‹ Warum sitzen hier noch alle ruhig herum? Müssten wir nicht schreiend durch die Straßen laufen und die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, weil wir es falsch angefasst haben? Weil uns die Dinge entglitten sind.« Die fremde Frau nickte kurz freundlich und widmete sich dann wieder ihrer Zeitung. Auch die Ameise wandte sich wieder süßeren Angelegenheiten zu und naschte vom Zuckerspender. Sie überlegte, ob sie überhaupt laut gesprochen hatte. Eigentlich spielte es keine Rolle.
Es war nicht so, dass sie nicht bereits früher versucht hätte, ihre Trennungsphantasien verständlich zu machen. Sie wear zu zwei Therapeuten gegangen. Beide hatten sie am Ende eher hilflos angeschaut. Der eine hatte die Gründe in ihrer Kindheit gesucht, aber in ihrer Kindheit war noch alles in Ordnung gewesen. Der andere hatte sie pathologisieren wollen und ihr Tabletten verschrieben. Grundsätzlich kein schlechter Ansatz, fand sie, nur hatten die Medikamente nichts bewirkt. Versuchte sie, mit ihrer Mutter oder ihrem Bruder darüber zu sprechen, zeigte sich schon nach zwei, drei Sätzen ein derartiges Unverständnis in ihren Mienen, dass sie doch lieber wieder über Politik sprach.
Nur gegenüber Zoe hatte sie sich heute einigermaßen verständlich machen können, indem sie einen Typen erfand, mit dem das Nähe-Distanz-Verhältnis gehörig durcheinandergeraten sei. Ein Kollege, sagte sie, mit dem es zu eng geworden sei. Etwas, das ihr tatsächlich nie passieren würde, dazu war sie einmal zu viel versetzt worden. Aber Zoe war so begeistert, aus ihrem leidvollen Erfahrungsschatz mit überfällig gewordenen Beziehungen schöpfen zu können, dass sie keinen Verdacht hegte. Außerdem war sie Tiermedizinerin und wunderte sich über gar nichts mehr. Sie erklärte einem alles als biologischen Prozess: »Eine Beziehung ist doch im besten Fall einigermaßen symbiotisch. Was du beschreibst, klingt für mich, als würde er sich kaum noch mit dir verbinden können. Als würde er nur nehmen. Wie heißt er eigentlich? Na, auch egal. Ich meine, du fütterst ihn quasi durch, er kocht nie für dich, oder? Und das, meine Liebe, ist parasitär. Wenn du die Nähe nicht mehr erträgst, er dir aber einfach nicht von der Seite weichen will, dann solltest du vielleicht zu drastischeren Mitteln greifen.«
Eigentlich war ihr längst klar, dass ein radikaler Schnitt anstand. Sie brauchte also ein sehr scharfes Messer. Vielleicht auch ein Beil. Das musste sie noch recherchieren. Außerdem sollte es möglichst sauber vonstatten gehen, sie wollte nicht, dass zu viel Blut floss. Das war ihr zuwider. Danach sauber zu machen dürfte ebenfalls schwer werden, und sie konnte ja niemanden bitten, hinter ihr her zu putzen. Selbst Zoe nicht, die tagtäglich Meerschweinchenblut wegschrubbte. Schon interessant – die Menschen akzeptieren ohne weitere Fragen Selbstverletzungen wie Ohrlöcher, Tattoos, Alkoholvergiftungen, Sportunfälle und Verkehrstote. Doch der Griff zu scharfen Klingen, um sich eines konstanten, elementaren Ekelgefühls zu entledigen, war ihnen kaum verständlich zu machen und führte allgemein zu Entsetzen.
Dabei war sie sich sicher, dass es ihr danach besser gehen würde. Sie dachte an diese japanische Beraterin, die dazu aufrief, sich von allem zu trennen, das keine Freude mehr in einem auslöste. Das leuchtete ihr zutiefst ein und wenn es eben mit Schmerzen einherging, dann sollte es so sein. Der Frieden und die Ruhe, die darauf folgen würden, würden weitaus länger wirken. Sie spürte also durchaus Bedauern, dass sie zu so einem rabiaten Mittel greifen musste, aber immerhin würde es schnell gehen.
Nachdem sie die Entscheidung gefällt hatte, lag sie nachts wach. Sie schwebte fast über ihrem Körper, beobachtete ihn. Sie schaute sie an, ihre linke Hand. Die Nägel an den Fingern waren lang, fast schon krallenartig, dabei hatte sie sie doch gerade erst geschnitten. Sie schien ihr nun größer und entschiedener als die rechte Hand und fühlte sich eiskalt an. Was, wenn sich ihre eigene Hand gegen sie wenden würde? Sie hatte es schon früher getan. Nachts Nachrichten an alte Liebhaber geschickt. Ihr den Finger in den Hals gesteckt, bis sie würgen musste. Die Hand hatte sie schon geohrfeigt, die gekniffen, ihr den Mund verboten, ihr an den Haaren gezogen, bis ihr die Tränen in die Augen schossen. Sie könnte sie ohne Umstände im Schlaf erwürgen.
Die Hand zuckte leicht, wie eine dieser Riesenkrabben, die mitleiderregend und abstoßend in den Aquarien von Nobelrestaurants an der Scheibe kratzten. Sie stellte sich unwillkürlich vor, wie ihre Hand anstelle des Tieres in einen Kochtopf mit kochendem Wasser geworfen wurde und sie herzergreifend schrie, um dann krebsrot und schäumend unterzugehen. In den wirren Träumen danach wurde ihr die Hand auf einem silbernen Teller gereicht, als Soße wurde blaue Tinte serviert. Sie nagte das zähe Fleisch von den Knöcheln. Als sie aufwachte, wusste sie nicht mehr, wie es geschmeckt hatte, und ihre nächtlichen Gedanken kamen ihr abwegig vor. Ihre Hand ruhte sanft ausgestreckt auf ihrer Brust, als würde sie sich an sie schmiegen und ihrem Herzschlag lauschen. Sie nahm sie dort weg.
Als sie in die Küche kam, fand sie dort einen Brief, die Handschrift sah ihrer sehr ähnlich. »Ich weiß, dass du es weißt. So geht es nicht weiter mit uns. Ich hatte gehofft, wenn wir diesen Töpferkurs zusammen besuchen, würde es besser werden. Indem wir etwas Sinnliches zusammen erleben. Ich dachte, dass der weiche Ton uns wieder zueinander führt, aber alles, was wir davon haben, ist ein abgrundtief hässlicher Aschenbecher, und wir beide rauchen nicht einmal. Wir müssen etwas ändern, ich ertrage diesen Zustand nicht mehr.« Den Töpferkurs hatte sie schon völlig verdrängt. Und war sie etwa dabei gewesen, als sie das geschrieben hatte? Die Hand selbst war ganz ruhig, sie griff nach einem Wasserglas, als wäre nichts gewesen und verschüttete nichts. War sie so abgebrüht, dass sie all das nicht berührte?
Sie fasste sie vorsichtig an. Es war, als würde man mit der Zunge an betäubtem Zahnfleisch entlanggleiten. Sie wusste, es war ihre Haut, aber sie fühlte sich nicht so an. Sie verstand schon lange nicht mehr, was in ihrer Hand vor sich ging, das war ja das Problem. Sie und ihre linke Hand wussten nichts mehr miteinander anzufangen. Und so war ihr nach und nach alles entglitten. Und sie fürchtete nichts mehr, als dass die Gefühllosigkeit sich weiter ausbreiten würde. Auf ihre rechte Hand. Auf ihr Leben. Dass sie sich irgendwann mit nichts mehr verbinden würde können. Wenn sie aber jetzt reagieren würde und sich lossagte von dem, was ihr so fremd vorkam, dann würden Innen und Außen vielleicht wieder zueinanderfinden und eine Realität bilden.
Anstelle des japanischen Messers kaufte sie doch lieber ein Fleischerbeil. Sie grub ein kleines Loch im Park neben dem Grab ihres Katers und deckte es provisorisch mit Blättern zu. Die Idee war ihr irgendwann beim Joggen gekommen, sie lief immer bei ihm vorbei, um ihn zu grüßen. Und dachte dann, dass es schön wäre, wenn beide nebeneinanderliegen würden, immerhin hatte die Hand oft sein Fell gekrault. Das war natürlich nicht erlaubt, schon damals bei der Katze nicht, aber es hatte niemand mitbekommen, als sie das Loch in einer Nacht von Sonntag auf Montag grub. Und heute freute sie sich immer, ihn dort besuchen zu können. Eine Passantin sprach sie an, was sie mit dem Spaten vorhabe. »Willst du eine Leiche verbuddeln?«, lachte sie. »Ja, ich muss noch ein Körperteil loswerden«, antwortete sie und ging beschwingt weiter.
Was war noch zu tun? Sie sollte vielleicht die Unterschrift mit der anderen Hand üben, fiel ihr irgendwann ein. Damit sie diese gut kopieren konnte. Man wusste nie. Manche Banken akzeptierten nur die exakt gleiche Handschrift. Sie setzte sich wieder vor das Café und übte die Unterschrift. Es klappte nicht so recht, irgendeine Unachtsamkeit unterlief ihr immer, aber schließlich legte sie den Stift beiseite. Sie konnte die meisten Dinge, die heute vor sich gingen, sowieso nicht mehr guten Gewissens unterschreiben. Von der Frau und der Ameise heute keine Spur, dafür flog eine einbeinige Krähe über sie hinweg und schiss knapp am Rand ihrer vollen Tasse vorbei. Das nahm sie als gutes Zeichen.
Es tat weniger weh, als sie befürchtet hatte. Das Hackebeil war scharf genug. Ein glatter Schnitt. Sicher half das viele Adrenalin – und natürlich das Betäubungsmittel, das sie in Zoes Praxis hatte mitgehen lassen, als sie sie nach einer Katzensterilisation zum Abendessen abgeholt hatte. Sie hatte sich informiert, wie man die Wunde für den geringst möglichen Blutverlust gut abbindet. Was sie jedoch aus der Fassung brachte, was das stumpfe Geräusch, mit dem die Hand ohne Gegenwehr auf die Fliesen in der Küche fiel. Sie versuchte durchzuatmen. Kraken und Eidechsen werfen ihre Gliedmaßen ab, wenn sie in Gefahr sind. Ein Bergsteiger hackte sich den Arm ab, als er festhing. Ein anderer Mann hat sich den Fuß abgeschlagen. Und langsam, trotz der pulsierenden Wunde, fand sie zur Ruhe.
Das Gefühl, dass mit ihr in dieser Welt etwas nicht stimmte, dass sie durch und durch linkisch war, ließ nach. Manche Dinge würde sie nun nicht mehr tun können, und wenn sie ehrlich war, beruhigte sie das immens. Der neue Zustand bedeutete Entschleunigung. Sie musste gewisse Dinge nun nicht mehr in die Hand nehmen. Mit einer Hand konnte man weniger anstellen als mit zweien. Das verhieß doch Gutes, oder? Durch die Selbstbeschneidung konnte sie jetzt wieder bei sich selbst ankommen, denn das Ich und sein Spiegelbild waren gleichermaßen beschädigt. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie eine Prothese wollte. Würde diese den Stumpfsinn ihres Seins nicht wieder kaschieren? Nein, es war besser, die Unzulänglichkeit nicht zu verbergen. Zu sich stehen, das versuchten dich alle in diesen Zeiten.
In der Nacht brachte sie das leblose Bündel Fleisch, es war schon nicht mehr ihre Hand, in den Park und vergrub es neben dem Kater. Sie legte keine Blumen ab, das erschien ihr übertrieben, dazu waren sie sich zum Schluss zu fremd gewesen. Worte hatte sie auch keine übrig. Sie waren einfach viel zu lang zusammengeblieben. Mit der Rechten strich sie kurz über das Grab des Katers, die Erde buckelte etwas, wie früher sein Rücken. Sie ging zeitig schlafen. In dem prekären Zustand zwischen Wachen und Schlafen erschienen ihr nun keine widernatürlichen Gedanken über sich selbst oder unsinnigen Zweifel an der menschlichen Natur. Schon bevor sie in einen tiefen, erholsamen Schlaf glitt, wusste sie, dass sie nun nicht träumen würde. Nicht heute Nacht und auch in keiner anderen mehr.
Die Wunde heilte erstaunlich gut, es gab keinerlei Entzündungen. Die entsetzten Nachfragen beantwortete sie so sachlich wie möglich. Eine Amputation wegen einer zu spät erkannten Sepsis, erklärte sie. Es wäre von außen betrachtet ganz schnell gegangen, die Anzeichen hätte eben einfach niemand richtig zu deuten gewusst; sie sei froh, es überlebt zu haben. Jede zweite verschleppte Sepsis dieser Größenordnung ende tödlich, habe sie erfahren. Dass das völlig unterschätzt werde, die Gefahr, gerade weil sie anfangs so diffus daherkomme. Je mehr sie über Sepsis las, um sich vorzubereiten, desto mehr fand sie, dass die Erklärung es eigentlich sehr genau traf. Wie jede gute Lüge war auch diese wahrer als gedacht.
Zoe weinte natürlich trotzdem. Aber auch nicht allzu lange, denn sie musste unbedingt von diesem neuen Mann erzählen, den sie gerade kennengelernt hatte. Doch durch die Art, wie Zoe von ihm erzählte, konnte sie bereits an einer Hand abzählen, wie lange die Beziehung halten würde. Ihre Mutter schlug einfach nur stumm beide Hände vor den Mund, und als sie es bemerkte, nahm sie sie schnell wieder herunter. Auf der Arbeit lief es in gewisser Weise besser als bisher. Seitdem die Linke fort war, konnte sie eindeutig klarer denken und ihren Aufgaben schneller nachgehen.
Wenn sie suspekten Personen die Hand schütteln sollte, streckte sie ihnen scheinbar versehentlich ihren Armstumpf hin. Allerdings hatte dieses kurze und harmlose Amüsement einen unschönen Nebeneffekt: Jedes Mal verspürte sie dann wenige Minuten später eine Art Phantomschmerz. Ihr kribbelten die Finger der linken Hand, gegen das Jucken konnte sie nichts tun, außer sehr viele Schmerztabletten schlucken. Daraufhin war ihr ganzes Sein so benommen, dass sie zu gar nichts mehr imstande war, was ihr im Grunde auch recht gelegen kam.
Nach einiger Zeit überkam sie zum ersten Mal der Wunsch, das Doppelgrab zu besuchen. Ihre Joggingrunde hatte sie doch lieber woanders hin verlegt, und sie war seitdem nicht mehr dort gewesen. Schon bevor sie bei der Stelle ankam, juckte ihr wieder die Haut an der noch immer empfindlichen Narbe. Die Erde über der Grabstätte, die sie damals mit den Füßen festgetreten hatte, war frisch aufgewühlt. War etwa ein Hund daran gewesen? Sie schaute sich um und ging auf die Knie.
Mir der rechten Hand griff sie vorsichtig in den lockeren Erdklumpen hinein. Sie bohrte durch die Erde, immer tiefer in den Boden hinein, bis zu der Stelle, wo sie sein musste. Mit dem Zeigefinger stieß sie durch eine festere Schicht in einen Hohlraum. Dort tastete sie eine von innen festgeklopfte Erdwand ab. Als hätte sich dort etwas eine Höhle gebaut und die Wände mit den Fingern glattgestrichen. Sie griff bis auf den Boden dieser Kuhle, doch dort war nichts. Dann fühlte sie etwas. Etwas Kleines, leicht spitz und dünn wie ein Hobelspan. Sie holte es hervor. Es war ein noch weicher abgebrochener Daumennagel, zerschabt und schwarz gefärbt von Erde.
Wenn die Hand nicht mehr dort war, wo war sie dann? Eine Hand, die sich eine Höhle baute und hervorkroch aus der Tiefe, konnte auch laufen. Wo würde sie hinwollen? Sie wusste es natürlich. Auf dem Weg nach Hause hielt sie den Rücken sehr gerade, die rechte Hand war tief in der Tasche geballt. Vor dem Schlafengehen verriegelte sie die Tür fünfmal.
Sie stellte Mäusefallen vor allen Türen und Fenstern auf, aber vergeblich. Die Hand tappte in keine hinein. Stattdessen fand sie immer wieder kleine Gaben, wenn sie vor die Tür trat: eine gepflückte Blume, ein liebevoll gefalteter Papierflieger, aus dem etwas Glitzer und getrocknetes Blut rieselten, ein Gutschein für die Maniküre. Sie stellte sich ihre linke Hand vor, wie sie in sich zusammengerollt unter freiem Himmel schlief. Sie musste mittlerweile knochig und muskulös zugleich sein – wovon ernährte sie sich, jetzt wo sie jetzt nicht mehr versorgte und doch so viele Handgriffe allein schaffen musste? Sie stelle einmal warme Milch und Fingerfood vor die Tür, sich selbst sagte sie, dass es für den Igel sei. Die Schale blieb unberührt. Doch etwas warf von nun an kleine Steine an die Scheiben ihrer wiederkehrenden Träume. Sie konnte kaum noch schlafen, immer häufiger horchte sie in die Dunkelheit. Die Steine fand sie manchmal beim Verlassen des Hauses in ihren Schuhen wieder.
Nach einiger Zeit gab sie auf und öffnete in der kommenden Nacht das Fenster eine Handbreit. Von da an hörte sie es, wenn sie innehielt: das leise, weiche Klicken von Fingernägeln auf dem Parkett, ein fünfgliedriges Schlurfen hinter sich, wenn sie in einen anderen Raum wechselte. Ihre gute Handcreme leerte sich rapide. Manchmal, wenn sie verloren dastand und vergessen hatte, was sie eigentlich wollte, schnipste es laut hinter ihr und es fiel ihr wieder ein. Morgens standen jetzt auf ihrem Badezimmerspiegel oft Nachrichten mit rotem Nagellack geschrieben, über die sie dann den Tag über nachdachte. Ihre Wäsche fand sie abends fein säuberlich gefaltet vor, wie sie es früher nicht einmal mit zwei Händen hinbekommen hätte. Hin und wieder steckten jedoch feine Nadeln in den Säumen ihrer Kleidung, so dass sie unvermittelt aufschreien musste. Die Hand selbst aber wollte sich nicht zeigen, sie lauerte irgendwo im Halbdunkeln wie eine schüchterne Spinne. Manchmal wachten sie morgens auf, und auf ihrer Brust war noch der schwache Abdruck der Hand zu sehen, wo sie zuvor geschlafen hatte.
Nach einer Weile war sie besessen davon, ihre Hand wiederzusehen. Und sei es auch nur, dass sie sie für einen kurzen Moment im Augenwinkel erhaschen konnte. Die andere Hand suchte nun auch ständig, sie griff um sich ins Leere, die Finger rastlos und nervös. Sie brauchte mehr Zeit, um sie zu finden. Sie kündigte ihre Arbeit. Stattdessen half sie ab und zu Zoe in ihrer Praxis, indem sie dort die Medikamente vorbereitete und anreichte. Sie entwickelte ein gewisses Händchen für die genaue Dosierung von Schmerzmitteln und kaufte dann die Handtasche bei Prada, bei der die Hand immer feucht geworden war. Sie legte die Tasche im Schlafzimmer weit geöffnet vor das Bett.
In der Nacht tapste etwas leise im Dunkeln über den Boden, hielt bei der Tasche inne und spielte kurz mit dem silbernen Verschluss herum, dann griff es in das weiche Innenfutter und befühlte es. Sie konnte hören, wie etwas den edlen Futterstoff streichelte und ließ schnell die Tasche zuschnappen. Es tobte in der Tasche und riss mit den Fingern am Verschluss, aber sie drückte die Tasche fest an die Brust. Am nächsten Morgen ging sie früh in die Praxis und sedierte die Hand, bevor sie sie herausholte. Im Licht betrachtet sah sie etwas vertrocknet aus und roch streng, aber es könnte schlimmer sein, die Handcreme schien Wunder zu bewirken. Sie nähte die linke Hand mit der rechten Stich für Stich sorgfältig an ihren Armstumpf. Die Technik mit dem OP-Faden hatte sie sich bei Zoe abgeschaut.
Es war eben eine nicht ganz unkomplizierte Beziehung. Verglichen mit anderen enttäuschten, vernarbten und wieder neu gefundenen Patchwork-Beziehungen erschien ihr die ihre sogar fast noch gradlinig. Zoe gegenüber, die gerade eine Art platonische Amour fou mit dem ChatGPT-Programm begonnen hatte, auch wenn sie es so nicht nennen würde, stellte sie die Hand als eine neue vor. Aus Silikon sei sie. Meist aber trug sie Handschuhe, dann fiel es garnicht weiter auf.
Wenn sie abends zurückkam, musste die rechte Hand die linke eincremen und massieren. Sie war allerdings längst nicht so geschickt wie diese und zerkratzte sie manchmal dabei. Das gab dieser zusammen mit der großen Naht am Handgelenk ein noch abenteuerlicheres Äußeres als sie es mit ihren muskulösen Fingern ohnehin schon hatte: Nachts kam sie oft in den Genuss ihrer Fingerfertigkeiten. Es war ihr, als würde die Linke, jetzt wo sie auf so merkwürdige Weise neu verbunden waren, bisher völlig ungeahnte Lustgefühle in ihr hervorrufen können. Nicht selten schlief sie mit den Fingern der Hand im Mund ein und während sie an ihnen saugte, fühlte sie eine innere Gelassenheit, wie sie noch nie verspürt hatte. Währenddessen lag die Rechte unnütz an ihrer Seite und schnipste gereizt mit den Fingern. Die Rechte war überhaupt recht angespannt in der letzten Zeit und hatte das Rauchen begonnen, so dass sie nun ständig über den überquellenden selbst getöpferten Aschenbecherauswuchs stolperte. Vielleicht wollte die Rechte auch an etwas saugen, das verstand sie ja, aber sie hielt nun doch lieber etwas Abstand. Der Geruch von kaltem Rauch an ihren Fingern war ihr da eine willkommene Ausrede.
Eines Nachts schreckte sie nass geschwitzt in der Angst hoch, dass ihr im Schlaf die linke Hand ausgerissen worden sei. Sie atmete erschrocken ein und griff nach ihr. Sie war noch da, hing jedoch an einem einzelnen Faden. Sie ahnte, wer dahintersteckte. Es war ihre rechte Hand, die die Fäden gelöst hatte. Seit neuestem hatte sie ein zunehmendes Problem mit der Linken entwickelt. Ständig riss sie wütend an ihr herum, zerkratzte sie immer heftiger oder schnitt sie gar mit einer Rasierklinge, wenn sie meinte, sie würde es nicht bemerken. Gestern hatte sie die Rechte sogar dabei ertappt, wie sie genüsslich eine Zigarette auf der Linken ausgedrückt hatte. Sie betrachtete sie skeptisch. Die Haut der Rechten erschien ihr in ihrer Makellosigkeit verweichlicht und auf überspannte Weise schlaff. Die andere hingegen, die Linke, pulsierte förmlich vor Lebensdrang, obwohl sie ziemlich zerrupft aussah. Sie konnte sie nicht ohne die rechte Hand versorgen, das war ein Problem, sonst hätte sie schon längst die Konsequenzen gezogen. Während sie überlegte, was zu tun wäre, notierte die rechte Hand unbemerkt eine Suchanfrage. Dann kippte sie eine Tüte zerriebene Narkotika in ein Glas, rührte das Wasser, bis es wieder klar wurde und reichte es ihr. Während sie das Glas leer trank, fiel ihr Blick auf die Worte der rechten Hand und sie las:
Spenderhand (re) n. Amput. an hirntoter Pat. frei z. Transpl.
Ges. wird Pers. zw. 18 u 50 J.; stabiles soz. Umfeld, psychisch unauff.,
gr. Bereitschaft z. Einnahme lebensl. immunsupprimierender Med.
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Dieser Text entstand exklusiv für die NEUE RUNDSCHAU 2025/3
Am 21. September 2025 ist die Premiere von Marschlande in der Bühnenbearbeitung von Hannah Zufall am Thalia Theater in Hamburg zu sehen.
Hannah Zufall
Hannah Zufall studierte in Hildesheim Szenische Künste und arbeitet als freie Autorin für Theater, Oper und Film. Sie erhielt mehrere Stipendien und Auszeichnungen für ihre Texte, zuletzt wurde sie bei dem Deutschen Preis für Nature Writing 2022 gewürdigt. 2021 hat sie an der Fernsehserie Warten auf’n Bus des RBB mitgeschrieben. Ihre Stücke werden u. a. am Berliner Ensemble, Thalia Theater, Deutschen Theater Berlin, Schauspielhaus Graz, an der Kammerphilharmonie Bremen sowie an der Oper Leipzig gespielt.