Neue Rundschau

Was kann es Ernsthafteres geben als ein Gespenst?

Ein Text von Mariana Enriquez

Mariana Enriquez Neue Runddschau

Schon als Kind habe ich Horror geliebt. Es hört sich paradox an, aber das ist es nicht. Man denkt an die Kindheit als eine Zeit der Einhörner und Regenbögen, aber das ist eine Romantisierung der Erwachsenen. Eine Fiktion, die die Erwachsenen sich ausdenken, um sich einzureden, dass die kleinen Menschen glücklich sind und dass sie selbst es auch waren. Die Kindheit ist sehr viel merkwürdiger als ein Land der Spiele und des Lachens. Meine spielte sich während der letzten argentinischen Diktatur 1976 bis 1983 ab. Die Diktatur der Junta, leise und blutig, aber geheim. Ich weiß nicht, wie man die Diktatur in meinem Land in anderen Ländern sieht, aber die Gewalt, die man sich wahrscheinlich vorstellt, passierte nicht vor den Augen der Bürger. Sie war verborgen, nächtlich und in vielen Fällen geduldet. Es gab nicht allzu viele Zusammenstöße zwischen bewaffneten Organisationen und dem terroristischen Staat: Über das Verschwinden von Menschen, also Entführungen mit nachfolgender Gefangenschaft in Geheimgefängnissen, wurde nicht gesprochen. In vielen Fällen wusste man nichts davon, in anderen tat man überrascht. Der am häufigsten gebrauchte Euphemismus war, dass jemand »mitgenommen« worden wäre. Ein Kind fragte sich, wohin, von wem, bin ich in Sicherheit? Man atmete Angst. Meine Eltern hatten politische Informationen darüber, was passierte, und flüsterten miteinander und mit einer ausgewählten Gruppe von Freunden und Verwandten bei uns zu Hause. Bei mir kamen die Informationen tröpfchenweise an, verworren, voller Rauschen, aber die Angst war metallisch und konkret. Wir Kinder dachten, dass wir adoptiert waren. Darüber wurde in der Schule geredet. Wir spielten Ratespiele, wer Eltern hatte, die nicht seine richtigen Eltern waren. Wir hatten eine monströse Ahnung, denn die Diktatur entführte wirklich Kinder und übergab sie anderen Familien, Kinder, die noch heute von Menschenrechtsorganisationen wie den Abuelas de Plaza de Mayo gesucht werden.
      Während das alles geschah, las ich in meinem Vorstadthaus in einem Viertel, das halb Industriegebiet war, Edgar Allan Poe, Frankenstein, Michael Ende, Märchen und Sagen. Außerdem erzählte meine Großmutter mir Geschichten von Geistern und Erscheinungen und Monstern aus ihrer Heimat, der Provinz Corrientes im argentinischen Litoral, einem Gebiet nahe am Urwald, aus dem sie in den dreißiger Jahren nach Buenos Aires gekommen war, und wo die Magie und die heidnische Kosmovision der Guaraní mit dem rationalen Denken und der westlichen Religiosität koexistieren.

Ich las von der eingemauerten Katze und dem Herz unter dem Holzfußboden, und ich verstand die Paranoia, die mich umgab. Ich dachte an Frankenstein und diesen Körper, der aus anderen, toten Körpern gemacht war. Ich las in einem Zug Die unendliche Geschichte von Michael Ende, mit dem Nichts, das vorrückt und eine Welt zerstört. Meine Großmutter erzählte von ihrer kleinen, als Baby gestorbenen Schwester, die nachts weinte, wenn es ein Gewitter gab. Die Bücher über Guaraní-Mythologie berichteten warnend von Frauen, die sich schlecht benahmen, und dass der Gott Tupá sie in Vögel verwandelte. Diese Geschichten waren meine Freude in einer grauen und von Ängsten erfüllten Kindheit mit mundtot gemachten, verängstigten Erwachsenen, die geistesabwesend waren und ständig stritten.
      Man kann sich das Horror-Genre als ein Genre vorstellen, das dem Nachdenken über das Anderssein gewidmet ist. Über das, was wir fürchten, weil es anders oder unbekannt ist. Über das, was essenziell anders, weil übernatürlich ist. Über Monster, eigene und fremde. Wer Horrorliteratur schreibt, versucht, sich dem Anderen zu nähern und gleichzeitig diese Angst vor dem Unterschied hervorzuheben, die in unseren Gesellschaften unvermeidlich ist und die sich, wie es aussieht, verschärft.
      Ich möchte Ihnen erzählen, wie ich anfing, Horrorliteratur zu schreiben, wie ich das Genre wählte – aus dem meine Arbeit nicht ausschließlich besteht, ganz im Gegenteil, aber das am meisten gelesen wird – und warum ich mit diesem Genre an jene Anderen denken wollte.

Ich habe immer Horror gelesen, aber ich dachte nicht daran, Schriftstellerin zu werden. Weder von Horror noch von sonst etwas. Ich wollte Musikerin werden, und weil ich das nicht geschafft habe, habe ich einen Roman geschrieben. Und ich habe Journalismus studiert, um Musiker interviewen zu können. Der Roman hieß Bajar es lo peor [dt. Runterkommen ist das Schlimmste], er erschien 1995 und war beeinflusst von der düsteren Schönheit Baudelaires – dem »Aas« und den »Satans-Litaneien«, von Lord Byron, von Rimbaud, von Emily Brontë, von den Vampiren von Anne Rice, von Clive Barker, vom Kokain. Es war (ist) letztendlich ein romantischer Roman. Mit einem Hauch Schauerliteratur. Ich wollte, dass es eine Horrorgeschichte wird, aber ich wusste nicht, wie ich es anstellen sollte. Ich hatte Stephen King gelesen, Lovecraft, Shirley Jackson und ihre Häuser wie Gefängnisse, Silvina Ocampo und ihre Grausamkeit; ich hatte die Storys von Cortázar gelesen und Shakespeares Macbeth. Ich hatte den Horror bei der argentinischen Dichterin Alejandra Pizarnik gefunden. Manche werden sagen: Es gibt keine Horrorlyrik. Die sollten mal dieses Gedicht lesen:

Das Licht des Windes zwischen den Pinien. Begreife ich diese glühenden Trauerzeichen?
Ein Gehängter baumelt an dem mit einem lila Kreuz markierten Baum.

Bis er es schaffte, sich aus meinem Traum davonzuschleichen und durch das Fenster in mein Zimmer einzudringen, im geheimen Einverständnis mit dem Mitternachtswind.

Was ich damals wollte und nicht geschafft habe, war, Genreliteratur zu schreiben. In der Tat fing ich aus einem technischen Grund damit an, der am Ende extrem literarisch und sogar persönlich war, wie so oft. Später verstand ich die historische und kulturelle Dimension des Genres, nach der ich gesucht hatte, wenn auch damals auf eine vage und nicht sehr reflektierte Art.
      Die Romane Bajar es lo peor und Cómo desaparecer completamente (letzterer von 2004 und 2010 unter dem Titel Verschwinden auf Deutsch erschienen) sind sehr unterschiedlich, aber beide sind realistisch. Und die Hauptfiguren sind in beiden Fällen männlich. Bajar es lo peor ist eine schaurige Liebesgeschichte und Verschwinden eine Geschichte über Initiation und Missbrauch, die die argentinische Krise ausgehend vom Ballungsraum Buenos Aires und einem beschädigten Körper erzählt. Aber ich wollte nicht realistisch schreiben. Ich wollte Genre schreiben: Fantasy und Horror. Ich hatte das Wissen, hatte alles gelesen, was in Reichweite war, klassisch und zeitgenössisch. Aber nach zwei Romanen konnte ich die notwendige Stimme nicht finden. Mir erschloss sich nicht, wie ich Horrorfiktion auf Spanisch schreiben sollte, und erst recht nicht auf Argentinisch. Was waren unsere Ängste, unsere Monster, unsere Gespenster, denn meiner Meinung nach hat Horrorliteratur eine gesellschaftliche Resonanz. Sie findet sich sogar in der Mündlichkeit, in Aberglauben und urbanen Legenden, die das tägliche Unbehagen kodifizieren.

Hier findet sich eine wichtige Dimension des Andersseins. Meine Tradition des literarischen Horrors war eine andere, insbesondere die angelsächsische von den Schauerromanen des 18.Jahrhunderts bis zu Emily und Charlotte Brontë: Der Roman Jane Eyre beginnt mit der Angst vor Gespenstern eines Mädchens, das in einem angeblich verhexten Zimmer eingesperrt wird. Dann die Schauergeschichten des amerikanischen Südens: das verfluchte Land von William Faulkner und Toni Morrison mit ihrem großen Gespensterroman Beloved. Ich finde es frustrierend, wenn behauptet wird, er sei eine Allegorie auf die Sklaverei. Der Roman handelt einfach von der Sklaverei, ohne Allegorie. Ein phantastischer Roman ist keine Allegorie: Er ist, was er ist. Er erzählt aus einer Perspektive, die sich von der Mimesis unterscheidet. In der Tat hat Beloved mir geholfen, dieses Anderssein zu verstehen: Zum ersten Mal empfand ich Mitleid und Schrecken wegen der Befreiung einer Sklavin, ich empfand es auf eine Weise, die das ganze historische Wissen über die Sklaverei nicht vermittelt hatten.
      Horror und Fantasy sind wie ein Zuhause. Steve Rasnic Tem & Melanie Tem, zwei nordamerikanische Genreautoren, die ein Paar waren und gemeinsam schrieben, sagen in einer außergewöhnlichen Story, die »The man on the ceiling« heißt: »Ich schreibe Dark Fantasy, weil es mir hilft zu verstehen, wie ich in einer Welt mit Monstern leben kann.« Es ist eine mögliche Antwort, aber dieser Grund ist nicht die ganze Wahrheit. Ich glaube nicht, dass ich die Antwort habe.
      Jedenfalls, um wieder darauf zurückzukommen, hatte ich zwei Romane geschrieben und in keinem das gemacht, was ich wollte: phantastische Literatur.

Bis zu diesem Moment hatte ich keine weibliche Stimme erschaffen können. Gewiss waren meine männlichen Protagonisten nicht »konventionell«, aber ich musste eine weibliche Figur erfinden. Das ist wirklich  Anderssein: Ich dachte, es würde genügen, eine Frau zu sein, eine Autorin. Als Frau und Schriftstellerin müsste eine weibliche Stimme ganz selbstverständlich sein, sagte ich mir. Das Gegenteil war der Fall. Ich war damals und auch heute nicht an Autofiktion interessiert, ich schrieb immer über Figuren, die weiter weg waren von der Erzählerin-Autorin. Und meine ersten Versuche, Frauenfiguren zu erfinden, waren eine Katastrophe. Sie redeten wie ich. Ich konnte die Welt dieser Frauen nicht finden. Wusste nicht, was ich mit ihnen machen sollte. Also probierte ich aus, ob ich die Stimme dieses schwer fassbaren Weiblichen in einer Horrorstory finden konnte. Dieses Genre ist in der Regel wirkungsvoller in kurzen Geschichten; und eine Erzählerin, die mir komplex erschien, war in einem kurzen Text vielleicht leichter zu kontrollieren. Diese Story heißt »Der Brunnen«, und ich verstand dabei erstens, dass der ideale Zustand eines Schriftstellers das Androgyne ist, genau wie bei der Magie. Zweitens entdeckte ich den Horror, von dem ich sprechen konnte. Und ich fand heraus, dass meine liebste weibliche Stimme nicht Hauptfigur, sondern Beobachterin ist, auch ihrer eigenen Umstände. Etwas distanziert und ein bisschen durchgedreht.
      Dann, ich habe es schon angesprochen, ist da das Problem der literarischen Tradition. Es gibt isolierte Erzählungen und wichtige Schriftsteller, die in Lateinamerika und Spanien in dem Genre gearbeitet haben, aber es gibt keine Horror- oder Dark-Fiction-Tradition auf Spanisch, wie es sie zum Beispiel auf Englisch gibt. Wir haben Horacio Quiroga, Julio Cortázar, Aura von Carlos Fuentes, Silvina Ocampo, Felisberto Hernández, der »Bericht über Blinde« von Ernesto Sabato (in Über Helden und Gräber), die wiederentdeckte Amparo Dávila und nicht viel mehr. Die Lebenswelten von José Donoso und Juan Carlos Onetti, die eine oder andere Erzählung von Rosa Chacel. Nicht in der eigenen Sprache über das Genre zu verfügen ist ein Problem, denn es zwingt zur Übersetzung, und da geht es nicht um eine Einzelsprache in die andere, sondern um ein ganzes sprachliches Universum.

Meiner Ansicht nach gibt es viele Gründe, warum es auf Spanisch keine Tradition der Horrorliteratur gibt (es gibt die Phantastik des Río de la Plata in Buenos Aires und Montevideo, aber das ist etwas anderes). Die geläufigste Erklärung ist der Katholizismus, die Art, in der die Religion den traditionellen Glauben zerstört oder Aberglauben verfolgt habe. Das scheint mir nicht ganz passend, denn im Katholizismus gibt es viele Horrorthemen, den Teufel, das Leben nach dem Tod, die lebendigen Toten.
      Außerdem bewahrt der Synkretismus das Phantastische und Finstere aus den ursprünglichen Religionen und aus dem Katholizismus, wie im Fall der Ánima Sola in Kolumbien oder des San La Muerte in Argentinien und Paraguay. Ich glaube, in Lateinamerika war es eine Frage der Klasse: das Phantastische, das Irrationale, war das Territorium der Schwarzen, der Bediensteten, der Indigenen und ihrer Kosmogonien. Der Rassismus muss bedacht werden, um diese Leerstelle zu erklären, aber das allein reicht nicht: In Europa gab es auch eine Klassengesellschaft, aber der lokale Aberglaube an Vampire oder Werwölfe oder gewisse Wesen aus der Folklore fand Eingang in die Literatur, in Gespenstergeschichten, Märchen, später in Erzählungen und Romanen. Die Vampire kommen aus Osteuropa: John Polidori und Bram Stoker schrieben über Vampire, Rudyard Kipling schrieb Jahre später in »Das Stigma des Tieres« über Werwölfe. Für die spanischsprachige Literatur gilt das nicht. Eigentlich ist es sogar seltsam, dass keine Elemente unserer lokalen Glaubensvorstellungen in der Literatur auftauchen. Wesen wie der Pombero, die Mapuche-Hexer, die Mythologie der Hexerei in Chiloé kommen im literarischen Kanon nicht vor. Jorge Luis Borges schrieb über Sagen aus Island. Warum? Wahrscheinlich dachte man, der lokale Glaube gehörte zu den einfältigen, ungebildeten Leuten und wäre nicht würdig, in die Zitadelle der Literatur einzuziehen. Noch einmal: Es ist nicht so, dass es keine Erzählungen oder Bücher dieses Genres gäbe. Aber eine Tradition ist etwas anderes. Es ist ein Ort, zu dem man hingehen kann, an dem man andere Autoren trifft, die eine Literatur erschaffen, in der man Vorstellungen, Sprache, nationale Eigenheiten – unangenehme wie positive – und Geographien teilt. Ohne das ist der Schriftsteller ein wenig verloren. Er muss neu erfinden, oder besser gesagt, er muss allein suchen, geführt von den wenigen Pionieren. Das ist nur ein Teil. Der andere ist es, den eigenen Horror zu finden. Unsere Ängste. Und da kommt die historische, politische, regionale Dimension dazu.

Ich überlegte, was die ersten Horror-Texte gewesen waren, die ich in meiner Sprache gelesen hatte, und es waren die journalistischen Zeugnisse aus der Diktatur. Den Bericht Nunca Más [dt. Nie Wieder] über die Geheimgefängnisse, Folter und Zeugnisse, den der erste Präsident der Demokratie, Raúl Alfonsín, in den achtziger Jahren in Auftrag gegeben hatte, und der in jedem Haushalt stand wie eine Bibel. Zeitschriften, in denen Details aus den dunklen Jahren geschildert wurden, mit Skizzen der Gefängnisse, Interviews mit Folterern, Zeichnungen von Gefangenen, Berichte über die Rückgabe von Kindern, erfolgreiche wie gescheiterte. Im Jahr 2009 veröffentlichte ich Los peligros de fumar en la cama [(dt. Die Gefahren des Rauchens im Bett); einige der Texte daraus sind 2013 auf Deutsch unter dem Titel Als wir mit den Toten sprachen erschienen], und in der gleichnamigen Erzählung verwende ich die Verschwundenen in einem Stück Genreliteratur. Das war schwierig, weil Genre normalerweise mit Unterhaltung assoziiert wird und Unterhaltung mit Banalität, und ich hatte Angst, dass man mir vorwerfen könnte, ich würde ein ernstes Thema banalisieren. Ich glaube nicht, dass Unterhaltung zwangsläufig banal sein muss, und ich glaube auch, dass das Vorurteil gegen Unterhaltung im Grunde daher rührt, dass sie beliebt ist, und die Kritik ist meist elitär (Schriftsteller häufig auch) und verachtet, was die Leute mögen. Die Erzählung erschien, und es passierte nichts, was mir noch etwas zeigte: Die Leute schenken der Literatur nicht so viel Beachtung, und ich war nicht so wichtig.

Natürlich finde ich die Angst nicht nur in der Geschichte, und auch nicht nur in diesem speziellen historischen Moment. Die institutionelle Gewalt setzte sich anders fort, und die immerwährende argentinische Wirtschaftskrise ist eine Art Schrecken ohne Ende. In den meisten meiner Erzählungen sind die Hauptfiguren Frauen, und sie handeln vom Körper, der Jugend, dem Begehren, der Macht, der Schuld. »Kein Gramm Fleisch auf unseren Knochen« [in Was wir im Feuer verloren] ist die Geschichte einer Frau, die in einen Totenkopf, folglich in den Tod verliebt ist – es ist eine Geschichte über Magersucht. Es sollte eine Geschichte mit Humor sein, oder zumindest war das die Stimme, die sich einstellte, um die Geschichte zu erzählen. Psychische Krankheiten allein auf den medizinischen Diskurs oder die Autofiktion zu beschränken, erscheint mir sehr langweilig und zahm. Der aus der Ordnung gefallene Körper besitzt eine andere Sprache, eine Art Freiheit, seine eigene literarische Stimme. Meine ersten Frauen waren meistens Teenager. Als Teenager ist man eine Art Monster, es heißt, sich in ein Anderes zu verwandeln: verrückt, einsam, mit dem Tod spielend, ungeliebt und unausstehlich, manchmal verloren. Ich selbst hatte als Teenager in einem Land, das eine brutale Wirtschaftskrise durchmachte – ich meine die am Ende der Alfonsín-Regierung –, außerdem das Gefühl, alles könne verschwinden. Heute haben meine Erzählungen mit meinem Körper und dem der Frauen in meinem Alter zu tun: In Grelles Licht für darke Leute nimmt der Körper in Erzählungen wie »Verwandlung«, »Das Unglück im Gesicht« oder »Die leidende Frau« eine zentrale Rolle ein. Der Körper, der beobachtet wird, und für den es vor allem in meinem Körper der Wechseljahre keine Landkarte gibt. Der eigene Körper als das Andere, der Körper als Unbekanntes, als ein grenzenloser Ort. Wieder ist der Körper das Monster.

Die institutionelle Gewalt in unseren Ländern ist ein weiteres Thema. Ich beziehe mich gewöhnlich auf reale Fälle, aber mein Interesse gilt nicht dem True Crime, weil ich nicht an eine Auflösung oder institutionelle Gerechtigkeit glaube. Gewalt interessiert mich in einem umfassenden Sinn, mein Thema aber ist die Gewalt, die durch Ungleichheit verursacht wird. Für »Tief unten im schwarzen Wasser« nahm ich die Ermordung des jungen Ezequiel Demonty. Es ist eine lovecraftianische Erzählung: Der Junge in der Geschichte ist ein Prophet Gottes, der unter Wasser lebt. Ich stellte mir den Riachuelo, einen verschmutzten Fluss in Buenos Aires, als Zeichen für Vernachlässigung und Verlassenheit vor. Noch ein Territorium des aktuellen Horrors ist die Mittelschicht, die progressive Möglichkeiten der Repräsentation aufgegeben hat und sich dem Faschismus in die Arme wirft. In »Meine traurigen Toten« ist der Andere der Nachbar, der Migrant, und diejenigen, denen Gewalt angetan wurde, sinnen auf Rache.
      All das kann man mit Horrorliteratur machen. Es gibt nicht ernsthafte Literatur und weniger wichtige Literatur: Was kann es Ernsthafteres geben als ein Gespenst, ein Wesen, das in seinem – persönlichen oder politischen – Trauma gefangen ist, jemand, der die Gerechtigkeit verlangt, die er nicht bekommen hat, und der in einem Loop feststeckt, sich wiederholt und für immer seine Geschichte erzählt, außerstande, den Kreis zu durchbrechen, unmöglich zu besänftigen, verzweifelt darauf bedacht, gehört zu werden. Es ist eine machtvolle Metapher, die nicht auf die Welt der Jugend- oder Unterhaltungsliteratur beschränkt werden sollte; die Erwachsenen sollten sich das nicht versagen. Es ist nicht fair, dass sie uns die Phantasie stehlen. Ich will Ursula K. Le Guin zitieren, als ihr in fortgeschrittenem Alter in den USA der National Book Award verliehen wurde: »Und ich nehme sie [diese Auszeichnung] mit Freuden an, auch im Namen all meiner Kolleginnen und Kollegen, die so lange Zeit von der Literatur ausgeschlossen worden sind – der Autoren von Fantasy und Science-Fiction, von Phantastik allgemein, die seit 50 Jahren zuschauen, wie die schönen Auszeichnungen an die sogenannten Realisten gehen. Auf uns kommen harte Zeiten zu, in denen wir uns nach den Stimmen von Schriftstellern sehnen werden, die fähig sind, Alternativen zu unserer heutigen Lebensweise zu sehen; denen es gelingt [...],andere Lebensformen in den Blick zu nehmen und echte Ursachen für Hoffnung zu erdenken. Wir werden Schriftsteller brauchen, die sich an Freiheit erinnern können – Dichter, Visionärinnen – Realisten einer größeren, weiteren Realität.«

Schauergeschichten und das Phantastische explodieren geradezu in der spanischsprachigen Gegenwartsliteratur. Nur einige Beispiele: Fernanda Melchor und Bernardo Esquinca (Mexiko), María Fernanda Ampuero und Mónica Ojeda (Ecuador, beide Migrantinnen in Spanien), Juan Mattio, Luciano Lamberti und Samanta Schweblin in Argentinien, Fernanda Trías in Uruguay, Elaine Vilar Madruga in Kuba, Maximiliano Barrientos in Bolivien, Layla Martínez in Spanien. Was ist passiert, damit es zu diesem massiven Auftreten kam, dass diese Literatur außerdem auch übersetzt wird und international Anerkennung findet? Einerseits die Popkultur: Es ist eine Generation, die jedes Wochenende Horrorfilme gesehen hat, die mit Stephen King und Twin Peaks aufgewachsen ist, die in jedem Land ein eigenes Kino mit Fantasy-, Horror- oder Schauerelementen hat, von Lucrecia Martel über Pablo Larraín und Guillermo del Toro bis J. Bayona. In allen diesen Ländern gab es Diktaturen und politische Gewalt, heute vielerorts ersetzt durch den Drogenhandel, Verbrechen, ökonomische und ökologische Gewalt, die Migration. Es ist normal, dass wir auf dem ganzen Kontinent einen Dialog mit der Angst führen können. Außerdem teilen wir alle die Vorstellung von der einzigartigen Gelegenheit, die sich aus der Nähe zu einer ungewissen Existenz ergibt. Guillermo del Toro sagte, dass es einem Wunder gleichkomme, in Lateinamerika einen Film zu machen, und drängte seine Studierenden, immer zuzusagen, wenn jemand anböte, einen Film von ihnen zu produzieren. Auch wenn das nicht der Film ihres Lebens wäre. Sie würden lernen, und es würde sich eine Tür für sie öffnen. Diese Vorstellung jenseits der Privilegiertheit entwickelter Länder bringt eine Dringlichkeit, ein Unbehagen, einen Überlebenswillen mit sich und überträgt sich auf die Literatur, weil das Leben so ist.

Außerdem ist es für uns alle seltsam, wenn man uns etwas vom Magischen Realismus erzählt. Ich zum Beispiel verehre Gabriel García Márquez. Aber sein Lateinamerika und das seiner Zeitgenossen ist komplett anders als das gegenwärtige. Dank der kubanischen Revolution und anderer historischer und kultureller Koordinaten war der Kontinent Zukunft und Hoffnung. Heute haben wir die Diktaturen durchgemacht und erleben, in was diese Revolution sich verwandelt hat, und wir sehen auch, wie der Traum sich in Nicaragua oder Venezuela zum Albtraum verzerrt hat. Unter den Schriftstellern war Roberto Bolaño der erste, er konnte dieses neue Lateinamerika der Beklommenheit am klarsten artikulieren und erzählen. Die Schönheit der Poesie, die zum Tricksen und Überleben nötige Gewitztheit, das Zusammenleben mit der Angst, sein Status als Migrant. Und das Verfolgen eines endlosen Traums, beziehungsweise eines Traums, der offen in der Wüste endet bei der Suche nach der Dichterin Cesarea Tinarejo in Die wilden Detektive. Wir sind Bolaños Kinder: Sein Werk hat die Erlesenheit des Booms, ist aber beeinflusst von der nordamerikanischen Literatur, von der Diktatur Pinochets. Es ist ein zeitgenössisches lateinamerikanisches Werk: Wenn es Magie gibt, ist sie schwarz, und der Realismus ist phantastisch und finster. Und die Stimmung ist schaurig. Wir bewohnen die Ruinen eines Kapitalismus, der sich nie entwickelt hat, und das nach der Apokalypse der Conquista, die 80 Prozent der Einheimischen ausgerottet hat. Die zeitgenössische phantastische und Horrorliteratur in Lateinamerika steht im Dialog mit der sehr realen Unsicherheit und Hoffnungslosigkeit unserer Realität. Natürlich ist das von großer Wichtigkeit, denn so leben wir.

Unsere Zeit ist reine Ungewissheit: Das Ehrlichste, was wir sagen können, ist: Wir wissen es nicht. Das Leben ist mysteriös, die Literatur ebenso. Die Realität ähnelt eher der Genreliteratur als dem Realismus, der Nachahmung bedeutet. Die Unmöglichkeit zu erklären muss anerkannt werden. Es ist nicht Aufgabe des Schriftstellers, Gemütlichkeit oder Ruhe zu liefern. Ich glaube gar nicht, dass wir eine Aufgabe haben, doch wenn es eine, wenn auch nebensächliche, gibt, dann ist es die, Fragen zu provozieren. Ich weise auf das Mysterium hin, versuche aber nicht, es zu lösen. Ich bleibe gern im Unerklärlichen.

 

Aus dem Spanischen von Silke Kleemann und Inka Marter

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Dieser Text entstand exklusiv für die NEUE RUNDSCHAU 2025/3

 

Mariana Enriquez Neue Rundschau
© Sebastián Freire

Mariana Enriquez

Mariana Enriquez, geboren 1973 in Buenos Aires, machte ihren Abschluss in Journalismus und sozialer Kommunikation. 2021 stand sie auf der Shortlist des International Booker Prize. Ihre Werke gewannen zahlreichen Preise und sind in viele Sprachen übersetzt. Für Unser Teil der Nacht erhielt sie 2019 den Premio Herralde, den wichtigsten Preis für spanischsprachige Literatur.